Abenteuer ÖV – Der (freie) Sitzplatz

Wir schreiben den ersten Tag. Nach dem Einsteigen in die S-Bahn steuerte ich gleich auf den erstbesten Sitzplatz zu. „Ist hier noch frei?“, fragte ich einen junger Mann, etwa Mitte zwanzig, graublaue Handwerkerhosen, am Knie durchgescheuert, rotes T-shirt mit dem Aufdruck „Töfflibueb“.  Dieser blickte konsterniert von seiner Pendlerzeitung hoch und starrte mich ausdruckslos an. Aufgrund seiner weiss verkabelten Ohrenstöpsel dachte ich, er hätte mich nicht verstanden und wiederholte freundlich meine Frage: „Ist hier noch frei?“

„Gaaaaanz falsch, Paps“, wie mich meine Tochter am Abend aufklärte. Beim Pendeln setzt man sich einfach auf die nächste leere Sitzfläche, ohne lang zu fragen. Das hält nämlich nur die nachkommenden Pendler auf, und zwingt andere, dir eine Antwort geben zu müssen. Für etwas, das keiner Antwort, geschweige denn überhaupt einer Frage bedarf.

Der Töfflibueb hatte sich denn auch bereits wieder in sein Pendlerblatt zurückgezogen, ich rutschte mit Hilfe auf Druck der nachrückenden Fahrgäste auf den leeren Sitz.

Ok, Merkpunkt Nummer eins: Hinsetzten, nicht fragen.

(Bildquelle: N24.de)

Es gibt natürlich Spielarten, wie Leute sich einen Sitz ergattern.

Das stumme Einklagen
Dame um die vierzig, schwarzes, streng nach hinten gekämmtes Haar, dunkelblaues Businesskostüm, schwarze Pumps, neben sich eine feste Globus Einkaufstasche voller dicker, bunter Dokumentmappen, angestrengter Blick auf ihre elektronische Agenda, irgendwelche Termine durchgehend.
Junges Mädchen in Jeans mit Löchern und einer weissen Steppjacke bleibt in stummer Anklage neben der Globustasche stehen. Die Business Lady, den Blick weiterhin angestrengt auf ihre Agenda gerichtet, zieht die Tasche etwas näher zu sich heran. Steppjacke lässt sich auf den nun halbfreien Sitz plumpsen, was die Tasche mit ächzendem Knarzen quittiert. So verharren Steppjacke, Globustasche und Business Lady in scheinbar friedlicher Übereinkunft nahe beisammen, und doch sind sie meilenweit voneinander entfernt.

Die fehlende Kinderstube
Tram Linie 8 Richtung Bern-Brünnen. Am Hirschengraben eingestiegen, setzte ich mich auf eine leere Zweierbank und stellte meine Tasche auf die leere Sitzfläche neben mich. Beim Kocherpark stiegen Leute zu, darunter ein Mädchen, knappe dreizehn, mit Turnschuhen ohne Schnürsenkel und Nasenpiercing, auf dem Rücken trug sie eine Art  Geigenkasten aus Stoff.

Ich konnte gerade noch meine Tasche vom Nebensitz auf meinen Schoss stellen, als sie auch schon schwungvoll herumwirbelte und sich quer zur Fahrtrichtung auf den freien Platz setzte. Dabei drückte sie mir ihren Geigenkasten mitten ins Gesicht. Ich pochte mit leichtem Stöhnen auf mein Recht nach Luft. Keine Reaktion. Ich klopfte deshalb mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers auf den Geigenkasten. Der Stoff schluckte meine Intervention, das Mädchen bewegte sich keinen Millimeter. Ich wollte gerade zu einem ernsten Gespräch ansetzten, da erhob sich die Montesori-Jüngerin und machte sich bereit für den Ausstieg an der nächsten Station.

Mein Ärger war noch nicht verraucht, da setzte sich ein laut in sein Handy quasselnder Mann neben mich. Ich machte mich bereit für den Ausstieg drei Stationen weiter, ich brauchte dringend frische Luft.

Der Weg ist das Ziel. Das mag eventuell für den Jakobsweg gelten, aber fürs Pendeln mit der Bahn ist der Weg lediglich verlorene Zeit, alle wollen nur irgendwie rasch von A nach B. Mir geht es da nicht anders.

Posted by Bobsmile

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